Ich glaube, würde man Statistiken erstellen, wie oft Menschen mehr an das Gestern als an das Morgen denken, würde sich ein durchaus eindeutiges Bild ergeben. Die Verklärung der früheren Jahre oder das Nicht-Vergessen-Können (oder Wollen) von Schmerz ist dem Menschen wahrscheinlich mehr zu Eigen, als er selbst wahrhaben möchte. Die Zukunft macht uns oftmals doch mehr Angst, als wir selbst glauben mögen. Unsicherheit durchzieht dann unser Leben, die Frage, sind die Entscheidungen, die wir treffen, wirklich die richtigen, oder eben doch die falschen?

Die Sehnsucht nach dem Gestern und das Leben im Gestern hat dabei „Vorteile“ für den einzelnen Menschen. Egal wie das Vergangene war, es ist gewesen und damit etwas, was man sicher festhalten kann. Von der Zukunft weiß keiner so recht, wie sie werden wird. Wird alles klappen, so wie ich es geplant haben? Ist es der richtige Weg, den ich gehe? Soll ich den Ausbildungsplatz annehmen und jetzt schon gutes Geld verdienen oder doch lieber studieren und mit wenig Geld auskommen, um in ein paar Jahren dann eine bessere Stellung in meinem Beruf zu haben? Soll ich in eine andere Stadt ziehen, die mir kaum vertraut ist, nur weil es mich dort hinzieht? Oder soll ich in dem Ort bleiben, in dem es mir zwar schon lange nicht mehr gefällt und über den ich keinen Frieden habe, nur weil ich eben schon so lange hier bin und meine Wohnung habe, meine Nachbarn kenne und mir vieles so vertraut ist – nur eben leer?

Ich glaube, wir Menschen machen es uns oftmals zu einfach. Wir lassen den Kelch der Entscheidung an uns vorüberziehen, anstatt uns auf eine Zukunft einzulassen, die uns viel Schöneres bringen könnte als das, was hinter uns liegt. Mir hat Gott vor einiger Zeit klar gemacht: hey, die Zeiten, die vor dir liegen, werden viel schöner sein als all die Jahre, die hinter dir liegen. Die Menschen, die du verloren hast, werden nie mehr Teil deines Lebens sein, aber es wird andere Menschen geben, die dich auf deinem Weg begleiten werden.

Aber ich reagiere eben „typisch menschlich“: ich habe Angst, loszulassen. Weil das Gestern eben das ist, was ich kenne. Weil ich lieber alleine meinen Weg gehe, anstatt mich wieder auf Menschen einzulassen, die ich ja wieder verlieren könnte – den alten Schmerz möchte ich nicht noch einmal erleben. Und erlebe ihn gerade dadurch immer wieder aufs Neue.

Was mir dabei in den Sinn kommt, und was ich erstaunlich finde, jedes Mal, wenn es mir bewusst wird: auch Jesus hatte Angst. Wie jetzt, der große Jesus hatte auch Angst? Wie das denn, wie kann der Sohn Gottes Angst haben?

Jesus kam für uns auf die Erde, und zog dabei nicht als hochgehobener Heiliger durch die Gegend, sondern war ein Mensch wie du und ich. Er war sich dessen bewusst, was er zurückgelassen hatte dafür, und er war sich dessen bewusst, was auf ihn zukommen würde: der Tod am Kreuz, davor und dabei unsägliche Schmerzen und eine völlige Verlassenheit von seinem Vater.

„Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“, steht in Matthäus 26,39 geschrieben (Luther 1984).

Jesus wusste um den Schmerz, der da auf ihn zukommen würde. Er wusste um den Verrat, die Verachtung, das verleugnet werden durch seine Jünger. Ihm war alles bewusst, und doch lebte er nicht in einem herrlichen Gestern, sondern im wunderbaren Morgen. Der Weg dahin bedeutete, durch den Schmerz gehen zu müssen.

Und auch für uns bedeuten Entscheidungen nicht immer freudige Zeiten. Wir haben Schritte zu gehen, müssen dabei loslassen, und von Vertrautem ablassen. Manchmal erreichen wir die herrliche Zukunft eben nur durch das Tal des Schmerzes, so bitter das jetzt klingt. Denn Loslassen tut weh, bereitet zum Teil unerträgliche Schmerzen. Doch nur wenn wir bereit dazu sind, eine Tür zu schließen, kann Gott die andere Tür für uns öffnen, hinter der viel mehr Freude, unsere Berufung, ein neues Leben auf uns wartet.

In der Zukunft zu leben, heißt: das Gute von Gestern mitzunehmen, die Verletzungen, so schwer es auch fällt, zu verzeihen, und sich in ein Morgen aufzumachen, in dem vieles was unmöglich schien, möglich werden kann. Wunder geschehen, wenn wir uns trauen, sie geschehen zu lassen. Alles ist möglich bei Gott, aber nur, wenn wir nach Vorne und auf ihn, und nicht immer nach hinten schauen.

Denn letztlich ist es wie beim Autofahren. Wer immer in den Rückspiegel und über die Schulter nach hinten sieht, der wird früher oder später crashen, weil er nicht nach vorne geschaut hat. So einfach ist das Leben letztlich. Nur wir selbst machen es uns oftmals schrecklich kompliziert…

Gebet zum Loslassen:

Herr, ich weiß nicht, was werden wird. Ich hänge an dem fest, was war. An den Menschen, die mich einst umgaben, an dem, was ich einstmals hatte und was nun anders ist. Angst umgibt mich, die Angst vor der Ungewissheit meiner Zukunft. Werde ich die richtigen Menschen treffen, werde ich wieder verletzt werden, werde ich die richtigen Entscheidungen treffen. Herr, du kennst mich besser als jeder andere. Du bist es, der in meinem Herzen gelesen hat seit ich im Mutterleib bereitet wurde. Du bist es, der mich begleitet hat auch in den Jahren, in denen ich dich nicht an meiner Seite haben wollte. Du bist es, der meine Zukunft kennt und der weiß, wie viel Angst ich vor dem Loslassen und vor dem Morgen habe. Wird der Schmerz in mir noch schlimmer werden, wenn ich das Gestern ziehen lasse, oder wird er mein Herz noch mehr zerstören? Herr, du bist es, nach dem ich rufe in der dunklen Stunde, in der ich selbst keine Antworten mehr auf meine Fragen habe. Du bist es, auf den ich mich aber auch verlassen mag und kann, weil du es bist, der mir das Leben einstmals gerettet. Weil du der bist, der die tiefsten Tiefen des Schmerzes selbst erlebt hat und meine Angst schon damals mit ans Kreuz genommen hast. Jesus, du bist die Antwort, auch wenn ich manchmal zu feige bin, die Fragen zu stellen und die Türklinken meines Lebens in die Hand zu nehmen. Du bist das Ziel, und alles, was kommt, ist nur der Weg zu dir.